Von Hans Eichel

Herr Eichel, Sie waren 1982 zur documenta 7 Oberbürgermeister der Stadt Kassel und haben maßgeblich dazu beigetragen, dass das Kunstwerk 7000 Eichen überhaupt realisiert werden konnte, auch gegen Widerstände ...
Das ist richtig. Es gab damals schwerwiegende Auseinandersetzungen zwischen den politischen Parteien und auch innerhalb der Stadtverwaltung. Die Bürgerinnen und Bürger haben leidenschaftlich das Für und Wider der Aktion diskutiert.
Allein dieser Diskussionsprozess war bereits ein Erfolg der Aktion. Es zeigte sich, dass viele Menschen wirklich betroffen waren und sich getroffen fühlten. Es war ja in der Tat auch ein Projekt, dem man allein schon von seinen Dimensionen her in Kassel kaum aus dem Weg gehen konnte. Und am Ende der 100 Tage documenta 7 blieben ja noch rund 6000 Basaltsäulen vor dem Fridericianum liegen. Das war schon eine geniale Provokation!
Die damaligen Widerstände gegen das Projekt waren für mich auch ein Beleg dafür, dass das neue Denken in der Kunst, um das es Beuys mit seinen Arbeiten ging, nicht jedem sofort verständlich zu machen war. Wenn „ungewohnte“ Maßnahmen neues Denken erfordern, steht die Kunst offenbar vor ähnlichen Herausforderungen in Bezug auf die Vermittlung ihrer Ideen wie die Politik bei schwierigen Reformen. Das Ungewohnte braucht immer Zeit, um die Verkrustungen und scheinbaren Gewissheiten in der Gesellschaft aufzubrechen. Heute würde es doch kaum jemand wagen, ein verringertes Parkplatzangebot als Argument gegen das Pflanzen von Bäumen zu gebrauchen. Die ökologische und künstlerische Provokation von Beuys ist wirklich akzeptiert. Dies zeigt für mich einen sehr positiven Wandel im gesellschaftlichen und politischen Bewusstsein in Deutschland.

Nach über 20 Jahren Rückschau ...
Woran erinnern Sie sich gern, woran weniger gern und was hat Sie am meisten bewegt?

Ich erinnere mich natürlich besonders gerne daran, dass das Gesamtprojekt – das Pflanzen von 7000 Bäumen in Kassel – im Sommer 1987, das heißt nach rund fünf Jahren realisiert werden konnte. Das war ja keine Selbstverständlichkeit nach dem etwas schleppenden Beginn der Pflanzaktion und den bald darauf auftretenden Finanzierungsschwierigkeiten. Viele haben ja nicht mehr an den Erfolg geglaubt. Aber die Idee von Beuys hat sich als stärker erwiesen.
Weniger gerne erinnere ich mich an den manchmal etwas überzogenen und kurzsichtigen Streit der Beteiligten um Detailprobleme an einzelnen Standorten. Da drohte doch manches Mal der Blick fürs Große und Ganze verloren zu gehen. Manchmal hatte das ganze Streiten etwas von Krähwinkel! Aber dieser Streit war ja auch produktiver Teil des Kunstwerks. Ohne die Gegenreaktion wäre der Sinn der künstlerischen Aktion ja nicht wahrgenommen worden. Insofern war man ja als politisch handelnder Teil eines Kunstwerkes. Und für Kassel gilt: Beuys prägt mit dieser Aktion unser Stadtbild und die Wahrnehmung der Natur in der Stadt. Das bleibt und dafür bin ich auch ganz persönlich Joseph Beuys dankbar.
Deshalb ist es auch besonders tragisch gewesen, dass Joseph Beuys den Abschluss seiner großartigen Aktion nicht mehr selbst erleben konnte. Ich glaube, er wäre gerade mit Blick auf die gewandelte Wahrnehmung seiner Aktion durch die Bürgerinnen und Bürger Kassels sehr erfreut über ein Werk, das immer noch weiter wächst.

7000 Basaltstelen auf dem Friedrichplatz – war Ihnen wohl dabei, diese Entscheidung mitzutragen? Hat Sie das Kunstwerk 7000 Eichen beunruhigt?
Ich habe mich nicht nur in meiner Zeit als Oberbürgermeister in Kassel immer für die Kunst im Allgemeinen und die documenta im Besonderen eingesetzt. Und da aktuelle Kunst recht häufig „anstößig“ ist oder besser als anstößig empfunden wird, da sie unsere eingeschliffenen Denk- und Sichtweisen in Frage stellt, fand ich die Diskussionen im Zusammenhang mit dem 7000 Eichen Kunstwerk im Grunde nicht ungewöhnlich. Dass so leidenschaftlich über die Kunst gestritten wurde, war doch auch ganz im Sinne von Joseph Beuys. In der Rückschau und mit dem Abstand von gut 20 Jahren bin ich allerdings schon ein wenig verwundert, welche große Wellen so ein Aktion auslösen konnte. Für mich als Oberbürgermeister der documenta-Stadt war es selbstverständlich, der Kunst einen breiten Raum – und zwar als Freiraum – zu gewähren. Denn nur so konnte und kann moderne Kunst, kann die documenta lebendig bleiben. Und diese Lebendigkeit ist ja ein Markenzeichen Kassels

„Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ – ein provokativer Titel. War dieser Slogan für Sie nicht ein Angriff?
Von Beuys selbst stammt ja der Satz: „Die einzige Genialität, die ich besitze, ist die, dass ich mich mit dem Druck der Zeit bewege, während andere sich dagegen bewegen.“ In diesem Sinne habe ich das Kunstwerk von Anfang an als Denkanstoß und positive Mahnung verstanden, Veränderungen der Umwelt speziell in unseren städtischen Ballungsräumen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Heute würde sich niemand mehr über so einen Slogan aufregen – ein weiteres Indiz dafür, wie weit Beuys seiner Zeit voraus war.
Stadtverwaldung steht ja auch dafür, dass wir ökologische Gesichtspunkte bei der Stadtentwicklung und Planung berücksichtigen. Das erfordert ein neues Herangehen an viele Probleme, vor denen wir stehen. Vielleicht ist es ja in diesem Sinne zu verstehen, dass heute die politische Diskussion insgesamt von einem Begriff aus der Forstwirtschaft geprägt wird: der Nachhaltigkeit. Ausgehend von der Idee, dass man nicht mehr Bäume schlagen darf, als nachwachsen können, hat sich dieser Ansatz einer zukunftsorientierten Politik praktisch in jedem Handlungsfeld als fruchtbar erwiesen. Sicher, es bleibt noch viel zu tun. Aber ich bin der Ansicht, nachhaltige Politik wäre auch im Sinne von Beuys gewesen.
Zum konkreten Projekt zurück: Es hat sich bei der Umsetzung herausgestellt – auch für Beuys –, dass ohne Stadtverwaltung die Stadtverwaldung gar nicht zu machen war. Vor allem Garten-, Tiefbau- und Vermessungsamt waren voll im Einsatz, um Standorte für Beuys-Bäume ausfindig zu machen und herzurichten. Vor allem die Leitungen unter den Straßen und Gehwegen sind ja oft ein großes Hindernis. Also: die Provokation wurde zurückgegeben: Stadtverwaldung durch Stadtverwaltung.

Beuys hat gesagt „Jeder Mensch ist ein Künstler!“ Wie sehen Sie diese Aussage in Zusammenhang mit dem Kunstwerk 7000 Eichen?
Beim 7000 Eichen-Projekt hat dieser berühmte Beuys-Satz für mich in mehrerer Hinsicht ganz praktische Bedeutung: Erstmal bedurfte es neben Joseph Beuys vieler Mitwirkender, um das Kunstwerk zu realisieren. Viele Menschen hatten Einfluss auf die Umsetzung und damit auf die „endgültige“ Form des Kunstwerks. Hinzu kommt aber, dass diese Form nicht konstant ist. Abgesehen von Änderungen durch das Wachstum oder das Nicht-Wachstum der Bäume entwickelt sich die Form in Abhängigkeit von Änderungen im Stadtbild. So zwingen Nutzungsänderungen bestimmter Flächen teilweise dazu, Bäume zu entfernen oder umzupflanzen.
Um das Kunstwerk über die Zeit „lebendig“ zu erhalten, sind dessen Besitzer – die Bürgerinnen und Bürger Kassels – daher zu aktiver und dauerhafter Mitarbeit verpflichtet. Welche Form dieses Kunstwerk zu einem bestimmten Zeitpunkt hat, das bestimmt sich durch die Initiative und das Engagement der Beteiligten. Jeder hat die Möglichkeit, sich zu beteiligen und in diesem Sinne künstlerisch tätig zu sein.

Leistung wird in unserer Gesellschaft immer stärker monetär betrachtet. Leistung erbringt der, der viel Geld verdient. Beuys hat uns einen anderen Kapitalbegriff vermittelt. Wie bewerten Sie unter diesem Gesichtspunkt das Kunstwerk 7000 Eichen?
Das Kapital jeder Gesellschaft sind immer die Menschen selber. In jedem steckt ein Universum von Fähigkeiten und Chancen. Es ist wohl die schwierigste Aufgabe von Politik, möglichst vielen den notwendigen Raum zu einer entsprechenden Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung zu geben. Gerade deshalb ist ja die Massenarbeitslosigkeit ein so gravierendes Problem. Nicht nur ökonomisch, sondern gerade weil sie die schöpferischen Fähigkeiten der Menschen – unser Kapital – ungenutzt verkümmern lässt.
Die Zukunft der Menschheit erfordert dabei ein Wirtschaften, das die ökologische Basis erhält. Denn wir können nicht gegen, sondern nur mit der Natur überleben. Die 7000 Eichen sind eine ständige Mahnung an diese einfache Wahrheit, die nur zu oft vergessen oder ignoriert wird.
Für mich dreht sich das Werk von Beuys sowohl um diesen kreativen als auch um einen ökologischen Kapitalbegriff. Damit traf er in den Achtzigern den Nerv der Zeit. Aber das ist auch heute gültig. Und vor allem, diese Ideen haben die Kraft noch lange prägend zu sein. Der Vitalität dieses Ansatzes entspricht die Lebenskraft der Eichen. Auch deshalb ist die Pflege des Kunstwerks 7000 Eichen auch eine Frage unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses.

Aus heutiger Sicht: Hat das Kunstwerk 7000 Eichen Ihre Erwartungen erfüllt? Glauben Sie, dass die Idee Wurzeln geschlagen hat?
Das 7000 Eichen-Kunstwerk von Joseph Beuys hat meine Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern weit übertroffen. Die Genialität dieses Kunstwerks und die Visionen, die Beuys darin verarbeitete, haben sich uns doch erst im Laufe der Zeit erschlossen. Und was vielleicht das Faszinierendste ist: Dieser Erkenntnisprozess ist noch lange nicht abgeschlossen, wenn er denn jemals zu Ende ist.
Wie die vielen Beiträge anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Errichtung des Kunstwerks im vorletzten Jahr gezeigt haben, sind die künstlerischen, sozialen und ökologischen Ideen hinter diesem „Meisterwerk“ aktueller denn je, auch wenn sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen in den letzten zwei Jahrzehnten stark verändert haben. Die Deutung des Kunstwerks mag sich im Zeitverlauf wandeln, die zugrunde liegende Kreativität wird aber stets spürbar bleiben. In diesem Sinne ist das Kunstwerk „7000 Eichen“ noch voller Rätsel, die sich erst langsam entwirren. Dabei weist Kunst immer auf den Menschen und sein Selbstverständnis zurück. Um Beuys zu zitieren: „Die Welt ist voller Rätsel, für diese Rätsel aber ist der Mensch die Lösung.“ Ich hoffe, dass auch in diesem humanen Sinne, die 7000 Eichen sehr tiefe Wurzeln geschlagen haben!

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„Die einzige Genialität, die ich besitze, ist die, dass ich mich mit dem Druck der Zeit bewege, während andere sich dagegen bewegen.“

 

„Die Welt ist voller Rätsel, für diese Rätsel aber ist der Mensch die Lösung.“

Joseph Beuys